FREIES PROJEKT > GESCHICHTEN AUS ZWEI STÄDTEN


Wie jeden Tag aus einem Foto und einem Text neue Welten entstehen.

Alles ist erlaubt, alles kann passieren. Und so lässt ein Bild einen Text entstehen. Jeden Tag aufs Neue. Der Fotograf Julien Fertl (Nürnberg) und der Autor Björn Bischoff (Erlangen) haben sich für ihr gemeinsames Projekt »Geschichten aus zwei Städten« genau diesen Prozess als Weg vorgenommen. Auf ihrem Blog www.geschichtenauszweistaedten.de finden sich alle vierundzwanzig Stunden ein neues Foto und ein neuer Text. Kurze Miniaturen und Alltagsbeobachtungen, Kontraste und Schatten, Phantastisches und Kurzgeschichten. »Ich schätze an Juliens Bildern die Räume, die er findet und festhält«, sagt Bischoff. »Jedes Foto erzählt bereits viele Geschichten. Ich muss nur die passenden Worte für genau die eine Geschichte finden, die unser beider Schaffen wiederspiegelt.«

Fertls Bilder strahlen dabei eine ganz eigene Poesie aus, eine eigene Atmosphäre, die seine Fotos stets verbindet. In entsättigten Farben fängt er etwa den Stillstand des Lebens unter den aktuellen Alltagsbeschränkungen ein. Bischoff lässt dann dazu etwa Ameisen eine Partie Schach spielen, Menschen rosten oder Dinge in Schatten verschwinden. Deutliche Inspiration bei seinem Schreiben: der Magische Realismus.

Getrennt durch die aktuelle Situation arbeitet Fertl von Nürnberg aus, während Bischoff in Erlangen wohnt. »Unsere Kommunikation findet vollständig über Telefon und Internet hierzustatt«, sagt Fertl. »Wir lassen uns den größtmöglichen Freiraum. Es ging uns erst einmal darum, dass wir dieses gemeinsame Projekt starten. Nun schauen wir, wohin es uns führt.«

Seit April sammeln sich die Einträge in ihrem Blog www.geschichtenauszweistaedten.de. Interessierte können dem Projekt aber auch auf Facebook und Instagram folgen. Wie es weiter geht? »Die nächsten Wochen und Monate soll das Projekt auf jeden Fall laufen«, so Fertl. »Die Hauptsache: Es macht uns weiterhin Spaß.« Und vielleicht ergeben sich ja eine Ausstellung oder eine weitere Art der Veröffentlichung. Es kann eben alles passieren. 

[Text von Björn Bischoff]


www.geschichtenauszweistaedten.de

DURCHGANG


Hin- und Hergerissen stand Joshua vor den beiden Türen, die genau im Winkel des Flurs lagen. Zu beiden Seiten fand er nun je eine Tür mit einer römischen Ziffer, jeweils angestrahlt vom Sonnenlicht. Welche Tür sollte er nehmen? Mit je einer Hand öffnete er beide Türen gleichzeitig und zerriss sich dabei in der Mitte, um in beide Räume eintreten zu können, jeweils eine Hälfte eines schiefen Grinsens in seinen jetzt zwei Gesichtern. Erst nach Stunden ging ihm auf, dass es bei seiner Entscheidung um mehr als zwei Türen gegangen war.

IM SCHATTEN


Kiran und Lucas fanden den Vogel in den Schatten der Türme. Sie sahen ihn dort nur kurz, waren sich aber später beide sicher, dass sie dieses Tier dort gesehen hatten, sein schwarzes Federkleid gegen die Welt tragend. Der Vogel saß dort und starrte sie mit kalten Augen an, bevor ein Windstoß ihm unter die Flügel griff und ihn mit sich in die Dunkelheit und damit ins Nirgendwo trug. Kiran und Lucas sprachen den Rest des Tages nur noch das Nötigste.

WARUM NIEMAND VON ZEHEN SCHREIBT


In der Geschichte der Kultur fanden sich Menschen schon zu allerlei Dingen verwandelt, etwa zu Ungeziefer, zu einer Brust oder zu einer Pfeife, die keine Pfeife ist, doch die Metamorphose zum Zeh fehlte bisher. (Vgl. Grün, Rafka: Die Verwandlung als zentrales Motiv der Moderne. Reclam. Ditzingen. 1989) Das Institut für Anthropologie und interkulturellen Austausch in Duisburg ging 1992 der Frage nach, warum ausgerechnet dieses Körperteil keine Erwähnung in der Kulturgeschichte des Menschen findet. Die Studie der Forschungsgruppe um Prof. Dr. Ilz kam zu dem erstaunlichen Schluss, dass der Mensch aufgrund einer biologischen Besonderheit, kein Gefühl in den Zehen habe. Daraufhin brach ein akademischer Streit aus, bei dem die Allgemeinmedizin eine tragende Rolle einnahm. (Vgl.: Auf dem falschen Fuß erwischt. Der Streit um den Zeh und den Menschen. Aus: SPIEGEL. Ausgabe 49/1994. Seite 51-54.) Mehrere Mediziner führten Studien an, die ein eindeutiges Gefühl des Menschen in den Zehen belegten, schließlich sei es zudem bei Diabetes ein anerkanntes Symptom, dass die Betroffenen nach einiger Zeit über ein fehlendes Gefühl in ihren Zehen klagten. Dem hielt der Verband der Neuropsychologen aus Potsdam entgegen, dass es sich dabei nur um einen Irrtum handle, schließlich erzeuge die Phantasie jener Patienten erst ein Gefühl für die Zehen, was sie eben dann wieder verlieren würde. Es handle sich um ein rein neurologisches und psychologisches Problem. Wie so oft in der Geschichte der Menschheit dauerte die Debatte eine kleine Weile, bis sie in Vergessenheit geriet und nach drei Jahren nur noch ein paar Regalmeter mit Büchern in medizinhistorischen Bibliotheken füllte. Zuletzt lieh sich der Historiker Dr. Margit eines dieser Werke aus, er trug es unterm Arm aus dem Lesesaal der Universität Gießen und wollte sich damit auf das nächste Semester vorbereiten, bei dem er genau über diese vergessenen und ungelösten medizinischen Sachverhalte referieren wollte. Am Abend las er bereits tief in dem Buch, das auch einen Aufsatz von Rafka Grün zu dem Thema enthielt. Erst als er mit dem Fuß gegen die Kante seines Bettes stieß und sein kleiner Zeh dabei unglücklich abknickte, verwarf er diesen Aspekt seiner Vorlesung doch ziemlich schnell, denn nun schien ihm ein Eisbeutel deutlich wichtiger. Seitdem hat nie wieder jemand einen Fuß in diesen Bereich der Forschungsgeschichte gewagt. (Quelle: Görner, Mark: Kuriositäten der Medizingeschichte. Eine populärwissenschaftliche Sammlung. Aufbau Verlag. Berlin. 1999)

NEUNUNDNEUNZIG JAHRE EINSAMKEIT


An einem Samstagabend fing Arn damit an, sich im Wasser seiner Badewanne aufzulösen. Er hatte keinen besonderen Entschluss dazu gefasst, vielmehr war es ein Gedanke, der ihm einfach so kam, während das lauwarme Wasser um seinen Körper floss. Zuerst lösten sich nur kleine Teile seiner Haut und vermischten sich mit dem Wasser; ein Austausch fand statt, so wie zwischen Radfahrer und Sattel, zu deren Verhältnis mehrere Studien aussagten, dass ihr Materietausch während des Fahrens eine Unterscheidung zwischen Fahrrad und Radfahrer ab einer gewissen Zeit unmöglich macht. Doch Arns Auflösung lief weitaus schneller, schon verschwanden seine Hand, dann sein Arm, dann Teile seines Brustkorbs, und eine Unterscheidung brauchte es dann bald nicht mehr, denn nach neunundneunzig Minuten, die sich wie Jahre in dem Badezimmer erstreckten, waren dort in der Wanne nur noch Arn in seinem flüssigen Zustand, verteilt in den Kubikmetern aus Wasser und Schaum und Flusen, und die Kette des Abflussstöpsels schlug dazu einen traurigen, langsamen Takt gegen den Wannenrand. Arns Freundin fand ihn in der Nacht. Und es mag sein, dass stille Wasser tief sind, doch zumindest in den folgenden Stunden sollte sie ab und an noch Arns Umrisse auf der Oberfläche des Wassers erkennen, bis die Sonne endlich die Nacht vertrieb.

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